Stell dir vor, deine Mutter zeigt dir eine Broschüre. Ein Ferienlager mitten im Wald. Bäume findest du eigentlich nur als Schrank super. Aber deine Mutter bekommt keinen Urlaub, deshalb darfst du mit einer Gruppe Jugendlicher und mies bezahlten Betreuern für eine Woche in die schöne Natur. Ein Topangebot, aber du hast keine Lust. Deine Hütte teilst du dir mit Jörg, der sich gerne am Rand aufhält, weil ihn keiner mag. Dafür kennt er sich mit Pflanzen aus und wandert gerne. Du interessierst dich mehr für gute Geschichten. Nachts fällt Mondlicht durch das Fenster, und ein Wolf sitzt vor der Hütte. Ein Albtraum. Jörg schnarcht, und du hast Angst. Jörg hat Stress mit Marko und seinen Jungs. Er ist ein Verlierer und muss jede Menge aushalten. Was kannst du machen? Vielleicht wäre die Lösung, Jörg beizustehen. Manchmal packt dich die Wut. Und dann? Das ist deine Geschichte. Du sagst: „Ich heiße übrigens Kemi.“
Nach mehreren Arbeiten im Nachtasyl hat Camilla Ferraz mit der Romanadaption von „Wolf“ nach drei Jahren Regieassistenz ihr Abschlussstück in der Reihe „Junge Regie“ im Thalia Gaußstraße inszeniert.
Nachgespräch nach der Vorstellung am 7.5. um 14:30 Uhr
Von: Saša Stanišić
Regie: Camilla Ferraz
Bühne: Nadin Schumacher
Kostüme: Katharina Arkit
Dramaturgie: Julia Lochte
Musik: CLARKS PLANET
Mit: Clara Brauer, Johannes Hegemann, Steffen Siegmund
Wer ins Theater geht, um einer spannenden Geschichte zu folgen, ist bei „Wolf“ gut aufgehoben. Der erste Roman von Sasa Stanisic, der in der Kinder- und Jugendliteratur als ausgezeichnet gilt, ist dabei auch für die Kinder- und Jugendtheater kein Geheimtipp mehr.
„Der Abend kommt langsam wie ein Bus und Herr Koriander liest eine Geschichte vor, er schafft es gerade so bis zum Schluss, ohne einzuschlafen. Die Geschichte hat eine Moral: `Wenn du freundlich durch die Welt gehst, geht die Welt freundlich mit dir um.´ Was für ein Blödsinn, oder? Also, wer auf sowas kommt, hatte noch nie echte Probleme, also der war noch nie auf sich allein gestellt, oder arm oder wurde `andersig´ gemacht.“ – was hier einerseits als süffisanter Seitenhieb zum Jugendtheaterklassiker der 2010er Jahre („Tschick“) gelesen werden kann, zeigt andererseits das Anliegen des Romans: sich mit den echten Problemen zu beschäftigen, ohne sie zu vereinfachen. Und einfach ist sie nicht, die Geschichte über Freundschaft, „Veranderung“, Empathie, Selbstermächtigung und Verantwortung. Aber sie bietet eine ganz wunderbare Vorlage, um mit viel Wortwitz, Fantasie und Situationskomik auch im Theater Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung zu verhandeln. Die Teenager werden dafür, wie sollte es anders sein, aus ihrem alltäglichen Umfeld gerissen und in ein Ferienlager verfrachtet, in das die Hauptfigur gar nicht erst fahren wollte. Hier können die Konflikte beobachtet und zugespitzt werden. Und damit nimmt „Wolf“ eine neue Perspektive ein: nicht Täter, nicht Opfer der Ausgrenzung, sondern Zeuge.
Bemerkenswert ist diese Inszenierung auch, weil sie auf einige Dinge verzichtet: explizite Gewaltdarstellungen, den ein oder anderen Abzweig in der Geschichte, eine konkrete Ausstattung oder fellige Vollkostüme. Die kurzweilige und temporeiche Inszenierung von Camilla Ferraz konzentriert sich auf das Erzähltheater und überzeugt damit nicht nur, weil sie zwei komplett leidenschaftliche Spieler (Johannes Hegemann und Steffen Siegmund) auf die stark reduzierte und abstrakte Bühne (Nadin Schumacher) in der Garage der Gaußstraße stellt, sondern auch, weil mit Clara Brauer die perfekte Anspielpartnerin und mit ihrem sphärischen Dreampop auch gleich ein komplett passender Soundtrack geliefert wird.
Thilo Grawe
Inhaltswarnungen: Es werden explizit Mobbing und Ausgrenzung dargestellt und Gewalthandlungen angedeutet. Es wird stellenweise ableistische Sprache verwendet. Es werden Angstzustände und "Andersmachung" thematisiert.
Sensorische Reize: Es ist stellenweise dunkel im Saal. Durch Wassergeräusche wie Plätschern und Rauschen werden laute z.T. auch dumpfe Geräusche erzeugt. Stellenweise wird Nebel eingesetzt und Mückenspray benutzt.